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Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Sonja Witte

Die Katharsis der deutschen Nation in »Das Wunder von Bern«      

Wie die Versöhnung der Generationen und Geschlechter die Vergangenheit überwältigt


Ich war vor einiger Zeit beim Arzt. Dort wurde ich im Wartezimmer davon überrascht, im Spiegel zu lesen, dass Thomas Gottschalk »ein anständiger 68er war« (Der Spiegel 43/2008: 110). In einem Interview war ihm das wichtig zu betonen, denn Reich-Ranicki habe – als er den Fernsehpreis mit den Worten ablehnte, dass er den im deutschen Fernsehen dargebotenen Blödsinn nicht mehr ertrage – einen Verrat an der 68er Generation begangen.

Im Gespräch mit dem Spiegel erklärte Gottschalk: »Jemand wie er darf uns jederzeit die Leviten lesen, die Totalablehnung war allerdings überzogen.« (ebd.) Früher hätte sich Reich-Ranicki »nie angewidert abgewendet, sondern im Gegenteil Leute wie mich auch mal durch ein Lob ermutigt« (ebd.). Aber das war früher, »in einer Zeit, als anständige 68er wie ich neben ihm auch Monty Python und ›Pardon‹ liebten; in einer Zeit, als Intellekt und Comedy noch keinen Widerspruch darstellten« (ebd.). Er, Gottschalk, habe gelernt aus dieser Zeit. Und davon profitierten alle, denn: »Ich unterhalte nicht Zielgruppen, sondern Menschen. Ob die 7 oder 70 sind, intellektuell oder grenzdebil – in meinem Herzen hat jeder einen Platz. Ich nenne das Familienfernsehen. Ich mach mich gern zum Deppen, wenn es der Unterhaltung dient.« (ebd.: 111)

Mit dem Titel meines Beitrages scheint dies auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben.

Doch – und das werde ich im Folgenden darstellen – lassen sich an dem Interview Elemente deutscher Vergangenheitsbewältigung in der Kulturindustrie aufrollen.

Ich werde das Interview mit Gottschalk als eine Art Miniaturbild für eine Interpretation des Films »Das Wunder von Bern« (D 2003, Regie: Sönke Wortmann) verwenden. Gezeigt werden soll, in welchem Verhältnis in dieser kulturindustriellen Darstellung deutscher Geschichte das Verhältnis der Generationen und Geschlechter untereinander, die Bedeutung der postnazistischen deutschen Nation und die NS-Verbrechen stehen.

In drei Teilen werde ich darstellen, wie eine positive Bezugnahme auf Deutschland, die das Publikum zu einer Identifizierung mit einem Bild der vom Nationalsozialismus geläuterten Nation animiert, in Zusammenhang steht mit der Idee einer Versöhnung der Geschlechter und Generationen.1

1. Thomas Gottschalk war ein »anständiger 68er«

Natürlich. Denn es gibt derzeit hierzulande kaum jemanden, der nicht irgendwie ein 68er – der anständigen Sorte – war. Heute gewinnt man den Eindruck, dass fast alle Kinder der Nazitätergeneration irgendwie am ›langen Marsch durch die Institutionen‹ beteiligt gewesen waren. Dies steht in Zusammenhang damit, dass seit den 90er-Jahren, so Dagmar Herzog, »das Jahr 1968 vor allem als der Moment dargestellt [wird], in dem eine linke Studentengeneration das Schweigen der Nachkriegszeit durchbrach und sich voll Ingrimm gegen eine ältere, vom Nationalsozialismus kompromittierte Generation stellte« (Herzog 2005: 221). Die Fokussierung im gegenwärtigen Bild von der 68er-Generation auf ihre Rolle als Tabubrecher des Schweigens über die NS-Verbrechen steht im Kontext der Konstitution des Nationalgefühls der Berliner Republik (vgl. kittkritik 2007). In diesem Zusammenhang erhält die 68er-Revolte die Bedeutung, dass durch die friedlichen Teile der Bewegung die nationalsozialistischen ›Geschichtsreste‹ aufbereitet, recycelt, durchgearbeitet wurden und diese damit den Weg zu einem guten, da geläuterten nationalen Kollektiv, welches sich 1989 vereinigte, vorbereitet hätten. Die Vorstellung der Nation als harmonischer Familie, die Generationen und Geschlechter zusammenbringt, wird verbunden mit der Idee, dass die 68er-Revolte diese Versöhnung erst ermöglicht hätte. Es entsteht ein Bild der Rebellion gegen das NS-Erbe, welches dieser den Erfolg zuspricht, die Altlasten aus dem deutschen Kollektiv ausgestoßen und somit eine ›gute Nation‹ ermöglicht zu haben.

Die Stilisierung der 68er zu Tabubrechern des Schweigens über die NS-Verbrechen der Eltern verweist darauf, dass die allgemeine Auffassung davon, was eine jeweilige Generation ausmache, selbst schon Teil einer Deutung von Geschichte ist, die in Deutschland immer auch kollektive Vergangenheitsbewältigung bedeutet. 1968 wird im Nachhinein als Revolte gegen die Nazis vereindeutigt. Mit der Betonung, wie ›anti‹ die damalige Generation gewesen sei, wird die zweite Tätergeneration als Statthalter des historischen Bruchs mit dem Nationalsozialismus markiert. Manche haben es damals vielleicht etwas übertrieben, meint man heute, wie etwa der Steineschmeißer Fischer. Geläutert zum Außenminister konnte dieser aber in den 90ern die Gewalt in die richtigen Bahnen, das heißt zum Wohle des deutschen Staates und Volkes lenken: den Schutzmännern werden nicht die Helme ab-, sondern deutsche Soldaten eingezogen, um wegen Auschwitz nationalen Interessen den Weg durch Jugoslawien freizubomben.

Conclusio, die im Übrigen nur für Westdeutschland gilt2: Da 1968 für die Entnazifizierung Deutschlands von den unanständigen Nazis steht, sind fast alle 68er anständig und da diese anständigen 68er in Deutschland Deutsche sind, sind alle Deutschen anständig: als Vorläufer, Mitläufer oder Nachläufer der Proteste.3 Wichtig im Kontext der Generationenversöhnung als kollektivierendem Bindemittel der deutschen Nation ist also die Betonung des vorangegangenen Generationenkonfliktes als Mittel, seine Überwindung zu postulieren.

Diese Weltanschauung hat nicht einfach nichts mit der historischen Wirklichkeit zu tun. Im Folgenden geht es mir nicht darum, in welchem Verhältnis die gegenwärtige Vorstellung, was 1968 gewesen sein solle, dazu steht, was 1968 ›in echt‹ gewesen wäre und was davon im Nachhinein umgebogen oder ausgeblendet würde. Ich zeige an »Das Wunder von Bern«, inwiefern in der filmischen Darstellung der Fußballweltmeisterschaft als Geburtsstunde eines ›neuen Deutschlands‹ die Idee einer Versöhnung der Generationen und Geschlechter als Folge eines vorangegangenen Konfliktes als kollektiver Kitt in der filmischen Darstellung fungiert.

Sönke Wortmann sagte in einem Interview mit dem Tagesspiegel über seinen Film: »Das ist ein deutscher Film, und er ist bewusst so gemacht worden. Dieses Land braucht eine neue Gelassenheit. […] Je älter ich werde, desto mehr lerne ich dazu. Heute weiß ich, dass mein Vater, als er 17 Jahre alt war und in den Krieg ziehen musste, dass der nicht den Zweiten Weltkrieg erfunden hat, wie ich im vorgeworfen habe. Irgendwann bin ich dahinter gekommen, dass es doch Adolf Hitler war. Es gab natürlich viele Nazis, die mitgemacht haben, aber es gab auch viele Opfer.« (Tagesspiegel 16.10.2003) Die vielen Nazis, »die es natürlich« gab, scheinen dem Film zufolge aber bereits 1954 spurlos verschwunden zu sein, denn in »Das Wunder von Bern« gibt es keine, sondern nur Opfer, deutsche Opfer als Opfer ihrer Geschichte, an deren Verlauf, da ja Opfer, niemand aktiv beteiligt gewesen zu sein scheint – Opfer also der Umstände im Allgemeinen, des Krieges, der Entbehrungen der schweren Nachkriegsjahre und vor allem des fehlenden Zusammenhaltes untereinander, was wiederum Folge der Umstände ist, die sich mit Bern aber wie durch Wunder in andere, bessere, weil siegreiche transformieren.

Die Geschichte des Films ist schnell erzählt. In drei Handlungssträngen spielt sich auf unterschiedlichen Bühnen im Grunde ein und dieselbe Geschichte vor der Kulisse der Fußballweltmeisterschaft 1954, bei der Deutschland in Bern als Sieger hervorgeht, ab – die ProtagonistInnen der Handlungsstränge sind: erstens Trainer Herberger und Stürmer Rahn der Nationalmannschaft, zweitens die Familie Lubanski im Ruhrgebiet und drittens der Sportjournalist Paul Ackermann und seine Frau Annette.

Die Matrix aller drei Handlungsstränge ist: Aufgrund der ›schlechten Umstände‹ gibt es keinen Gemeinschaftssinn, was zu Konflikten zwischen den ProtagonistInnen führt und dann zum Wunder: die Überwindung der Konflikte zwischen den Einzelnen bedeutet die Entstehung eines Gemeinschaftssinnes, der die Voraussetzung für den Sieg der Deutschen ist und zugleich durch den Sieg überhaupt sich erst konstituiert. Im Zustand vor dem Sieg gibt es zwei Konfliktachsen: zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Das Paradoxon im Verlauf des Films, der Widerspruch zwischen den Generationen und Geschlechtern – dass einerseits die Einheit erst durch den WM-Sieg gestiftet wird und andererseits die Überwindung der Konflikte zwischen den Einzelnen durch die Bildung einer Gemeinschaft erst den Sieg ermöglicht – löst sich am Ende des Filmes im »Wir sind Weltmeister!«. In Bern werden die Opfer in Sieger verwandelt, dazu brauchte es eine Transformation der Einzelnen zu einer ›guten Gemeinschaft‹, die mit dem Sieg konsolidiert wird, aber eigentlich erst zum Sieg führte – die Konstitution der Nation setzt die Einheit voraus, die sie erst besiegeln soll.4

Zunächst zur Mannschaft: Sepp Herberger ist ein Trainer der ›alten Schule‹. Mit rigider Hand versucht er die Jungs durch Drill und mit Hilfe deutscher Wertarbeit, nämlich Addi Dasslers Spezialschuhen, zum Sieg zu führen. Dies kollidiert mit dem jugendlichen Dickkopf des schmucken Stürmers Helmut Rahn, der zu gerne Bier trinkt – vor allem wenn er beleidigt ist, wenn Herberger ihn nicht aufstellt. Beide, Rahn und Herberger, müssen erst lernen, was wahrer Teamgeist ist. Im Falle der Nationalmannschaft geht es um den Generationenkonflikt zwischen Trainervater Herberger und Stürmerkind Rahn. Entscheidende Wendungen treten in »Das Wunder von Bern« stets ein, wenn Frauen als vermittelnde Kraft auftreten. So wie z.B. eine Schweizer Putzfrau, die der über die Eskapaden Rahns besorgte Herberger frühmorgens im Foyer des Hotels am Spiezer See trifft, in dem die deutsche Nationalmannschaft untergebracht ist. Zu Beginn der Sequenz beobachtet Herberger Rahn, der seinen Frust, von Herberger beim letzten Vorrundenspiel nicht aufgestellt worden zu sein, in der Hotelbar heruntergespült hatte und auf den Hoteltreppen ausschläft. Grübelnd verlässt Herberger sein Zimmer und wird im Foyer von der Putzfrau aufgehalten:

»Stopp!« ruft sie, erkennt ihn dann und begrüßt ihn überrascht. »Grüzi, Herr Herberger!«. Und Herberger erwidert ebenfalls: »Grüzi!« Nachdem die Putzfrau sich entschuldigt hat, ihn nicht erkannt zu haben, wird Herberger über die schweizerische Form der Begrüßung hinaus Entscheidendes von der Repräsentantin des Gastlandes lernen. Der Bitte der Putzfrau Folge leistend, nicht über den nassen Boden zu laufen, setzt sich Herberger auf einen Sessel im trockenen Bereich, um eine Lehrstunde in Sachen moderner Pädagogik zu erhalten.

 

Putzfrau: Haben Sie heute verloren?

Herberger: Und wie!

Putzfrau: Dann sind Sie also jetzt nicht mehr in der Konkurrenz?

Herberger: Doch, doch. Wir haben eine Schlacht verloren, nicht den Krieg. Sagen Sie, junge Frau, haben Sie Kinder?

Putzfrau: Ich? Neun Stück, und Sie?

Herberger: Zweiundzwanzig.

Putzfrau: Hä?

Herberger: Und einer von ihnen macht mir großen Ärger.

Putzfrau: Sicher ihr Lieblingskind, die machen immer am meisten Ärger.

Herberger: Und da fällt es einem besonders schwer, ihn zu bestrafen.

Putzfrau: Ach, Quatsch.

Herberger: Wie?

Putzfrau: Quatsch, Schmarrn, Blödsinn. Sie sind jetzt nicht in Deutschland, da muss nicht mehr immer bestraft werden.

Herberger: Aber wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Putzfrau: Man muss auch mal fünf grad sein lassen.

Herberger: Ohne Fleiß kein Preis.

Putzfrau: Wenn der Apfel reif ist, fällt er von selber vom Stamm.

Herberger: Früher Vogel fängt den Wurm?

Putzfrau: Ein Ball ist rund und ein Spiel dauert neunzig Minuten.

 

Im ersten Teil ihres Gesprächs wird Fußball von der Putzfrau in Bezug zu Konkurrenz gesetzt – ein Spiel verloren zu haben, bedeutet ihr, nicht mehr im Wettbewerb zu sein. Herberger hingegen setzt mit dem Krieg eine ›härtere Metapher‹ ein. Die Verbindung der Niederlage im Fußball mit ökonomischem Verlust bzw. verlorener Schlacht wird dann verknüpft mit dem Topos Familie. Hier führt sich die Gegenüberstellung von Konkurrenz und Krieg insofern fort, als dass die Putzfrau eine liberale Haltung einnimmt und Herberger ein autoritäres Entweder-Oder vertritt. Die Putzfrau fordert Milde den Kindern gegenüber, Herberger Härte. Er vertritt eine deutsche, autoritäre Haltung, die von der Putzfrau für überkommen erklärt wird: Der Trainer macht sich selbst zum Mittelpunkt, das Verhalten der »Kinder« ist für ihn entweder »für ihn oder gegen ihn« – er hat keine andere Perspektive, kein Einfühlungsvermögen und fordert die Bestrafung »des Abweichlers«. Herberger unterstellt die Wirksamkeit des Prinzips des Krieges und daraus resultiert für ihn: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.« Die Entgegnung der Putzfrau, dass der reife Apfel von selber vom Stamm falle, räumt den Kindern Spielraum ein, erklärt hartes Eingreifen für unnötig – im Gegensatz zu Herberger, der von außen »das Früchtchen formen« will, denn »ohne Fleiß kein Preis«.

Die Putzfrau reinigt derweil den Boden und damit zugleich Herbergers Gesinnung: Ihre pädagogische Nachhilfe wird als »Entnazifizierungscrashkurs« Herbergers Führungsstil entscheidend liberalisieren und den Weg durch Bern in ein neues Deutschland eröffnen.

Die »Apfelmetapher« der Putzfrau erinnert an eine andere »Volksweisheit«: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, meint »Wie der Vater so der Sohn«. Und in der Tat treffen sich Rahn und Herberger in ihrer Haltung eines »falsch verstandenen Individualismus«, der egoistisch das eigene Selbst derart in den Vordergrund stellt, dass die Verpflichtung, einer »gemeinsamen Sache« zu dienen, gefährdet wird. Auch Rahn wird seine Interessen der Mannschaft unterordnen müssen und seine Fähigkeiten für den deutschen Sieg einsetzen lernen.

Die Putzfrau mahnt, das querulante Lieblingskind trotzen zu lassen – und verbindet in der doppelten Determinierung der Apfelmetapher die Vorstellung einer Nähe (das Lieblingskind wird nicht weit vom Stamm des Vaters »abfallen«) mit einer Distanz, das Kind »machen zu lassen« und nicht immer gleich zu bestrafen – wie es in Deutschland üblich gewesen ist, dort, »wo man jetzt nicht mehr ist«. Diese Formulierung enthält eine räumliche (man befindet sich in Spiez, und nicht in Deutschland), und zugleich (durch die Formulierung »nicht mehr«) eine zeitliche Dimension: Die Zeit des Krieges war die des Nationalsozialismus, die hier mit einer strafenden, väterlichen Autorität in Verbindung gesetzt wird. Wer nicht mal fünfe gerade lassen sein kann, frisst in der Frühe den Wurm, auch wenn – oder gerade weil - der Wurm das Lieblingskind ist.

Herberger repräsentiert eine patriarchale Autorität, die spaltet und nicht verbindet. Er versucht – erfolglos –, die Seinen zusammenzuhalten, indem ›Abweichler‹ bestraft werden. Die Putzfrau hingegen steht für weibliche Empathie, sie zeigt, dass Gewalt nicht (mehr) das bindende Element sein soll, sondern Liebe, die auch Ungerades (»fünf«) gerade sein lässt, dass also Ungleiches als Gleiches gelten kann. Statt dem generativen Gegeneinander, der Anklage und Strafe – die in dieser Sequenz in Bezug gesetzt wird zu einem notwendigen Abschied, von einem ›Deutschland, in dem man jetzt nicht mehr ist‹ – wird ein gegenseitiges Verstehen treten.

Mit Hilfe (nicht nur) der Putzfrau gelingt es Herberger, sich von seinen autoritären Mustern zu verabschieden, selbst Teil (und nicht nur Oberhaupt) der Mannschaft zu werden und mit Humor und der Putzfrau entlehnten flotten Sprüchen selbst den Chaoten Rahn zu bändigen. Ebenso wird Rahn ›anständig‹ – er wird zusehends sehen, dass der ›Ball rund‹ ist und ins Tor gehört wie, dass er seinen pubertären Egoismus zu bändigen hat, damit es am Ende klappt, wenn: »Rahn schießt!« und zwar Deutschland zum Weltmeister. Wer, der was von Deutschland hält, möchte nicht zu dieser Generation gehören, die der älteren Generation das alte Deutschland abgewöhnt und damit letztlich die ›Eingliederung der Deutschen in die internationale Staatengemeinschaft‹ ermöglichte. 

2. Jemand wie Reich-Ranicki darf »uns« jederzeit die Leviten lesen, Totalablehnung ist allerdings überzogen. In einer Zeit, als anständige 68er wie Gottschalk neben Reich-Ranicki auch Monty Python und »Pardon« liebten; früher, in einer Zeit, als Intellekt und Comedy noch keinen Widerspruch darstellten, hatte sich Reich-Ranicki nie angewidert abgewendet, sondern im Gegenteil Leute wie Gottschalk, die die ganze Familie unterhalten, auch mal durch ein Lob ermutigt

Reich-Ranicki könne, so Gottschalk bedauernd, als gnadenloser Kritiker keinen Standpunkt außer dem eigenen gelten lassen – er selbst hingegen habe aus 68 gelernt, dass es falsch sei, für oder gegen etwas zu sein, weil wechselseitige Toleranz und Anerkennung besser seien als Ablehnung. Gottschalks anständige Lehre aus 68 ist: es ist falsch, Parteinahme für etwas mit einer Ablehnung von etwas zu begründen. Diese pseudo-libertäre Haltung bevorzugt eine pseudo-neutrale Haltung, die verbindet statt bei Differenzen (z.B. der zwischen Intellekt und Comedy) stehen zu bleiben. In dieser Rhetorik geht es um ein Paradoxon eines reinen Dafürseins, welches sich darin begründet, dagegen zu sein dagegen zu sein.

Im zweiten Handlungsstrang ist es wieder eine Frau, die diese Idee eines harmonischen Kollektivs gegen den ›Individualismus‹ als Relikt einer ›alten Ordnung‹, die trennt und nicht vereint, vertritt. Wir befinden uns in Essen im Hause der Familie Lubanski. Vater Richard kehrte nach 12 Jahren russischer Kriegsgefangenschaft ins Ruhrgebiet zu seiner Familie zurück. Mutter Christa hatte in der Zwischenzeit gemeinsam mit ihren drei Kindern – Ingrid, Bruno und Matthis – eine Eckkneipe geführt. Der Älteste, Bruno, ist von kommunistischer Gesinnung, Gitarrist und Raucher, Ingrid ein nettes Mädchen, das ihrer Mutter fleißig hilft und ab und zu bei Tanzabenden mit Besatzungssoldaten tanzt. Matthis, der Kleinste, interessiert sich für Fußball, spielt selbst mehr schlecht als recht, hat es aber dennoch zum Taschenträger des Stürmers Rahn gebracht, seine beiden besten Freunde sind Atze und Blackie, zwei Kaninchen, die in einem kleinen Stall im Hinterhof wohnen. Matthis ist Rahns Maskottchen. Beide sind überzeugt, dass Rahn ohne Matthis Anwesenheit in entscheidenden Spielen keine Tore schießen kann.

Seit Vater Richard aus der Gefangenschaft heimgekehrt ist, gibt es Spannungen im Hause Lubanski. So taucht Richard auf einem Tanzabend auf, auf dem Brunos Band aufspielt, und verbietet seiner Tochter Ingrid, mit den feindlichen Soldaten anzubändeln. Bruno wirft Richard in einem Streit vor, ein Mitläufer gewesen zu sein, woraufhin er sich zwei Ohrfeigen von seinem Vater einfängt. Danach haut Bruno, wie es sich für einen Kommunisten gehört, ab in die Ostzone zu seinen Genossen und wird die WM fernab der Heimat uniformiert unter Bildern von Marx und Engels im Parteibüro am Radio verfolgen. Matthis Fußballleidenschaft und vor allem seine Begeisterung für seinen Vaterersatz Rahn stoßen Richard übel auf. Als er Matthis dabei erwischt, wie er für Rahn eine Kerze in der Kirche anzündet, wird Richard auch beim Kleinsten handgreiflich. Er ohrfeigt Matthis, Matthis beginnt zu weinen und Richard schickt ihn mit den Worten nach Hause: »Ein deutscher Junge weint nicht!«. Des Nachts packt Matthis seine Sachen, begibt sich zum Bahnhof und wartet auf den ersten Zug in die Schweiz. Richard fängt ihn dort ab, schleift ihn nach Hause und verprügelt Matthis nackten Hintern am Küchentisch mit seinem Gürtel.

Christa ordnet im oberen Stockwerk die Wäsche und hört Richard und Matthis unten in der Küche, stürmt daraufhin die Treppen hinunter und versucht, Richard den Gürtel abzunehmen. Im Streit zwischen Christa und Richard wird wieder, wie schon im Disput zwischen Herberger und der Putzfrau, deutlich: die autoritäre, mittlerweile überkommene Gesinnung eines Entweder-oder, für mich – gegen mich, deren Mittel die Prügelstrafe ist, ist ein Relikt aus früheren Zeiten. Jetzt ist die Zeit einer neuen Gemeinschaft angebrochen, des gegenseitigen Verständnisses und der Unterstützung, die nicht nach dem Für oder Gegen fragt, sondern einfach füreinander da ist.

 

Christa: Richard! Hör sofort auf damit. Willst Du ihn blutig prügeln?

Richard: Stellst du dich auch gegen mich?

Christa: Was soll das denn heißen?

Richard: Ich will wissen, ob du dich auch gegen mich stellst?

Christa: Gegen mich, für mich. Es geht doch nicht nur um dich! Ob´s den Kindern gut geht, oder mir– zählt das nicht mehr für dich?

Richard: Du willst mir Vorwürfe machen? Guck doch, wohin deine Erziehung geführt hat. Der Älteste ist ein Großmaul mit kommunistischen Flausen im Kopf, das Mädchen ist Soldatenhure und der Kurze ein Spinner, der in die Schweiz abhauen will.

Christa: Frag dich mal, warum der weg will. Wegen dir!

Richard: Ich versuch ihm ja nur, etwas Disziplin beizubringen. Damit er tüchtig ist und was wird im Leben.

Christa: Ach so ist das. Was glaubst du denn, wo ich in den letzten Jahren gewesen bin? Ich hab die Familie durchgebracht, ich hab die Kneipe aufgebaut, von der wir jetzt leben, nebenbei habe ich den Haushalt geschmissen und die Kinder großgezogen. Und jetzt kommst du! Und machst alles schlecht! Und stellst die Ordnung wieder her!

Richard: Ich sag ja gar nich, dass alles schlecht ist.

Christa: Ich will dir mal was sagen, Richard. Bevor du kamst, waren wir eine halbwegs glückliche Familie. Seit du da bist, sind die Kinder verstört, traurig und verzweifelt.

Richard: Willst du, dass ich wieder zurück ins Lager gehe? Willst du das?

Christa: O Gott, hör doch mal auf mit deinem Selbstmitleid! Kannst du nicht einmal, ein einziges Mal für zehn Sekunden mal an andere denken? Seitdem du da bist, beschäftigen sich alle pausenlos mit deinen Launen, deinen Stimmungen, deinen Gefühlen! Hast du jemals ein Wort der Anerkennung für uns gefunden? Bruno spielt mit der Kapelle ein paar Mark ein, Ingrid hilft bis zum Umfallen in der Wirtschaft, sogar der Kleine trägt mit seinem Zigarettenverkauf zum Haushaltsgeld bei. Soviel zum Thema Disziplin! Und ich sag dir noch was, Richard: Wer am wenigsten Disziplin von uns allen hat, das bist du!

 

Richard, der mit Prügeln, Selbstmitleid und Ignoranz gegenüber den Leistungen und Gefühlen anderer ›die Ordnung wieder herstellen will‹, macht die Kinder ›verstört, traurig und verzweifelt‹. Ebenso wie Herberger vertritt Richard die Ausschlusslogik: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich – ebenso wie die Putzfrau Herberger, lehrt Christa Richard: darum geht es jetzt nicht mehr, es geht um die Bewahrung einer harmonischen Gemeinschaft, in der auch mal fünfe gerade sein können und nicht die Prügelstrafe, sondern das Gemeinschaftserleben Mittel der Erziehung ist. Alle gehören, ob sie Vorlieben für den Kommunismus, Fußball oder britische Besatzungssoldaten haben oder nicht, zusammen – dieser Zusammenhalt wird von Richard als Vertreter der ›alten Ordnung‹ gefährdet. Während Herberger ein ›Macher‹ ist und – ebenso wie Rahn – seine Interessen durchsetzen möchte, statt im Team eine Lösung zu finden, ist Richard ›Opfer‹. Soll er zurück ins ›Lager‹? Die ›Abkürzung‹, statt ›Kriegsgefangenenlager‹ ›Lager‹ zu sagen, als die fehlende Präzisierung, um was für ein ›Lager‹ es sich handelt, unterstreicht Richards Selbstgefühl als Opfer.5

Sein Opferstatus wird im und vom Film nicht dementiert – im Gegenteil. In einer anderen Sequenz erfährt das Publikum eben nicht den Grund seiner Inhaftierung, wohl aber, dass zumindest die Dauer seines ›Lageraufenthaltes‹ nichts damit zu tun hatte, dass er am Krieg gegen Russland beteiligt war. Als er versucht, Kriegsentschädigung zu beantragen, wird ihm diese verweigert mit der Begründung, er habe Diebstahl begangen. Die ›Umstände‹ jedoch waren so existenzieller Art, dass sie jeglicher moralischer Wertung enthoben scheinen – Richard tat nichts, was nicht jedeR tun würde: er stahl, um nicht zu verhungern, und zwar braunen Zucker aus der Küche – er ist damit doppeltes Opfer der Umstände, das sich, wie in einer weiteren Sequenz von ihm erzählt wird, trotz der Umstände aus den Umständen des Krieges zwischen Russland und Deutschland herausgehalten hat. Mehr noch, er schloss Freundschaft mit der russischen Bevölkerung. Am Küchentisch beim Kartoffelschälen erzählt er, wie ein russischer Bauer ihm das Bild seines im Krieg gefallenen Sohnes zeigte – wenn das keine Völkerverständigung ist. Doch nicht genug damit, dass Richard infolge des Mundraubes und obgleich er den Russen nicht Feind sondern Freund war, zwölf Jahre zu Unrecht im ›Lager‹ war – wird er auch im Nachkriegsdeutschland erneut Opfer seiner Umstände. Aufgrund seines Kriegstraumas kann er seine Arbeit im Bergwerk nicht wieder aufnehmen – er beantragt eine Entschädigungszahlung, die ihm von den Behörden mit der Begründung verweigert wird, er habe aus zivilen Gründen eingesessen.

Die Erzählung des Filmes ›beweist‹ also, dass sein autoritäres Verhalten Folge seiner Opfererfahrung ist, zu entschuldigen daher, aber für die Familie nicht tragbar. Richard braucht die Familie, um nicht länger nur vereinzeltes Opfer zu sein – und die Familie braucht ihn als vollwertiges Mitglied, der die anderen anerkennt und nicht versucht, mit der ›alten Ordnung‹ die neue, bessere Ordnung in Gefahr zu bringen. Und die ›alte Ordnung‹ steht, wie gesagt, ähnlich wie in Gottschalks Formulierung, für eine Haltung, die andere ablehnt, in der es um dafür oder dagegen geht, um entweder-oder, um Sachen, die sich gegenseitig ausschließen. Die ›neue Ordnung‹ bringt – dank der neuen Generation – eine positive Gemeinschaft hervor, die ›ganze Familie‹, basierend auf gegenseitiger Ermutigung und Anerkennung.

3. Gottschalk unterhält nicht Zielgruppen, sondern Menschen. Ob die 7 oder 70 sind, intellektuell oder grenzdebil - in seinem Herzen hat jeder einen Platz. Er nennt das Familienfernsehen und macht sich gern zum Deppen, wenn es der Unterhaltung dient.

Allen soll es gefallen, das ist wichtig – ob alt oder jung, Mann oder Frau, Enkeln, Kindern, Eltern, Großeltern … es geht um die Unterhaltung der ganzen Familie. In dieser hat die dritte Generation in der kulturindustriellen Vergangenheitsbewältigung eine spezifische Funktion: Symbolisch stellt sich in den neueren deutschen Filmen die dritte Generation als Gegenentwurf zur konfrontierenden Anklage der 68er dar. Die jüngste Generation scheint abseits des Konfliktes ›Nazis versus anklagende Rebellen‹ zu stehen und damit, wie in »Das Wunder von Bern« auch die Frauen, privilegiert für die Vermittlung im Konflikt zu sein. Phantasmatisch übernimmt in den kulturindustriellen Darstellungen die Enkelgeneration die Funktion zu beweisen, dass die Überwindung des Konfliktes zwischen 68er und Tätergeneration ad acta gelegt ist und nun – so die Popgruppe MIA – ›neues deutsches Land‹ betreten wird. Seit der Wiedervereinigung sei die Ära angebrochen, in der die Geschichte der Deutschen aufgearbeitet sei, erste und zweite Generation können sich durch die dritte Generation befreit gemeinsam von den ›Altlasten der Geschichte‹ schwarz-rot-geil ins deutsche Schmusekollektiv und in Gottschalks Herzen kuscheln.

Die für die dritte Generation postulierte ›Geschichtsneutralität‹ erweist sich als Gegenentwurf zu der gegenwärtig stilisierten Rebellion der zweiten Generation gegen die Nazis und bildet die Voraussetzung zur Versöhnung mit der Tätergeneration, die in der begeisterten Identifizierung aller mit der deutschen Nation mündet. Die Vorstellung, die Elterngeneration hätte mit langen Haaren, Joints, Demonstrationen und Promiskuität erfolgreich das ›Nazierbe‹ in sich und um sich herum bekämpft, ist vom Bild der Unschuld der nachkommenden Generation als Repräsentantin der Zukunft der Nation getragen.

Auch wenn »Das Wunder von Bern« im Jahre 1954 spielt und somit die Enkel der Tätergeneration in der manifesten Erzählung nicht vorkommen, zeigt sich in der Darstellung des Verhältnisses der ProtagonistInnen untereinander – so meine Interpretation – die Struktur eines Dreigenerationengefüges. Ebenso wie die Frauen erscheint die dritte Generation als eine heilsame Kraft im Generationenkonflikt zwischen der Täter- und der Kindergeneration, in ihr stellt sich das ›Neue‹ dar, welches mit der ›alten Geschichte‹ nicht mehr wirklich in Berührung steht.

In einer der Schlüsselsequenzen erklärt Christa Matthis wiederum, dass er auch Verständnis für den Vater aufbringen müsste. Richard hatte die beiden Kaninchen von Matthis geschlachtet, um sie der Familie zu servieren, die – inclusive Matthis – nichts von der Herkunft des Fleisches ahnend die Tiere verspeiste. Matthis entdeckt danach die Reste seiner toten Freunde in der Mülltonne und rennt zu einem Anlieger an einem nahegelegenen Kanal. Völlig fertig über den Verlust seiner Kaninchen Atze und Blackie sitzt Matthis, nachdem er sich übergeben hatte, auf dem Steg. Christa war ihm nachgelaufen, setzt sich neben ihn und erklärt ihm, dass der Vater im Grunde kein schlechter Mensch sei.

 

Matthis: Mama? War Papa früher auch so?

Christa: Wie?

Matthis: So gemein.

Christa: Mattis, denk mal an vorhin, wie es dir weh getan hat, als du gemerkt hast, dass Atze und Blackie weg sind. Jetzt stell dir mal vor, dass es dir jeden Tag so weh tut – zwölf Jahre lang! Jeden Tag! Kannst du dir das vorstellen? Aber so muss es für Papa gewesen sein, als er nicht nach Hause durfte. Zwölf Jahre lang!

Matthis: Aber da kann ich doch nichts für!

Christa: Kann denn der Papa was dafür? Siehste, wir können alle nix dafür. Aber wir können alle helfen, dass es besser wird. [C. tätschelt M. den Kopf.] Mmmh, du? Bist‹n ganz Großer, mein Kleiner! Papa is’ auch `n ganz Großer eigentlich….

Wenn wir alle ihm helfen, dann wirst du dich noch wundern, was du für‹n tollen Vater hast. Man braucht nur Geduld. Der Rest kommt von alleine …

 

Matthis besteht zunächst gegenüber seiner Mutter darauf, dass er nicht verstehe, warum der Vater so gemein sei. Er beteuert der Mutter gegenüber seine Unschuld: Ich bin nicht wie der Vater – ich kann nichts dafür. Matthis betont die Generationengrenze entlang der väterlichen Tat. Christa aber verschiebt die Realität der Tat auf die Motivation: Matthis kann (wirklich) nichts dafür, der Papa kann (angeblich) nichts dafür, beide sind unschuldig, also ist Matthis wie Richard und Richard wie Matthis. Mit der Nivellierung des Faktums, dass die Kaninchen nicht von selbst zum Braten wurden und dass es somit jemand getan haben musste, wird die generative Differenz mit weiblicher Empathie aufgehoben.6 An die Stelle der väterlichen Schuld tritt die familiäre Unschuld. Denn: Verbunden ist man im Leiden – Richards Leiden ist lebenslang, und zwar Matthis Leben lang. Matthis ist so alt, wie der Vater in Gefangenschaft war. 12 Jahre in russischer Gefangenschaft, 12 Jahre Nationalsozialismus, 12 Jahre alt ist Matthis. Die Übergabe der Schuld von der ersten an die folgende Generation wird zum Transmitter: unter Berufung auf die Unschuld der zweiten Generation wird die der ersten behauptet. Im Akt des Erbrechens wird durch Matthis hindurch Richards Tat hinaus gewürgt, die Richard selbst als Leidender, ergo Unschuldiger beging.

Das im Folgenden zu bewältigende Problem auf der Leinwand besteht darin, dass – obwohl der Körper nun durch Erbrechen von den ›bösen Spuren‹ der Vergangenheit bereinigt ist, zwischen Richard und Matthias noch kein ›Bindemittel‹ wirkt. Richard – und damit auch Matthis, da beide füreinander stehen in Christas Gleichsetzung – repräsentiert nach wie vor die kollektive Niederlage. Dieses Problem wird in »Das Wunder von Bern« in der Verknüpfung mit der ›Heilung der Nation‹ durch den Sieg gelöst werden: nur gemeinsam, beide, Vater und Sohn müssen aus der Opfer-Dynamik rausgebracht werden und das können sie nicht zu zweit allein im familiären Rahmen, sondern der Bruch muss durch die Nation geheilt werden.

Nun zum dritten Handlungsstrang, in dem es um das Ehepaar Paul Ackermann, Sportjournalist der Süddeutschen Zeitung, und Annette Ackermann, Hausfrau und Noch-Nicht-Mutter, geht. Annette und ihr prospektives Kind stehen für den Eintritt in die Ära eines ›neuen Deutschlands‹. In diesem, so zeigt sich am Ende von »Das Wunder von Bern«, ist die Niederlage der Nation überwunden, die Gemeinschaft der Deutschen gründet sich auf einer moralisch integeren (durch Annette vertretenen) Begeisterung für die eigene Nation und es kündigt sich eine ›unbelastete‹ Zukunft (repräsentiert durch die nachfolgende Generation) an.

Beide Konfliktlinien – die zwischen den Generationen und den Geschlechtern – werden am Ende des Filmes aufgelöst, indem beide Konfliktparteien im Zuge des Sieges der Fußballweltmeisterschaft sich wechselseitig als Teile des siegreichen Kollektivs, welches mit dem Konflikt auch die ›alte Ordnung‹ hinter sich gelassen hat, anerkennen.

Doch zunächst einen Schritt zurück, vor dem Sieg in Bern. Wir befinden uns in München – im modernen Hause des gutsituierten, und auch in sonstiger Hinsicht die triste Stimmung bei den Lubanskis im Ruhrgebiet kontrastierenden, Ehepaares Annette und Paul Ackermann. Paul bekommt von seinem Chef den Auftrag, die Berichterstattung über die WM zu übernehmen und in die Schweiz zu fahren. Das kollidiert mit den Plänen seiner Frau, die sich nicht für Fußball, aber für Kleider, Spiegel und eine gemeinsame Hochzeitsreise nach Ägypten interessiert. Der Chefredakteur der SZ hatte Paul gewarnt: »Die Frau ist der natürliche Feind des Fußballs!« In der Tat scheint Annette zu Beginn des Films diesen Eindruck zu bestätigen – aber ganz überraschend willigt sie ein, Paul in die Schweiz zu begleiten. Als Frau ist sie ›Nicht-Expertin‹. Sie weiß nicht, wie viele Spieler eine Mannschaft zählt und hat keine Ahnung von den Stärken und Schwächen der verschiedenen Nationalmannschaften. Sobald aber die Ackermanns in der Schweiz angekommen sind, wird auch Annette vom Teamgeist erfasst. Entgegen Pauls Einschätzung, die deutsche Mannschaft habe schlechte Chancen zu gewinnen, glaubt sie fest an den Sieg der Deutschen. Ihre weibliche Intuition, Irrationalität und Spontaneität wird am Ende gegen die Expertenmeinung ihres Mannes Recht behalten und noch mehr: Ihr Enthusiasmus, ›dafür‹ zu sein, dafür, dass die Deutschen gewinnen, wird am Ende entscheidend zum Sieg der Mannschaft beitragen.

Paul und Annette sind im gleichen Hotel untergebracht wie die deutsche Nationalmannschaft. Die WM befindet sich in der Vorrunde als Annette eines Abends ein Bad nimmt und mit Paul, der am Wannenrand sitzt, über Deutschlands Chancen diskutiert.

 

Annette: Und? Wen kriegen wir im Endspiel?

Paul: Das interessiert dich? Wie war das noch neulich mit den 24 Leuten, die einem Ball hinterherlaufen?

Annette: Ach neulich! Neulich war ich doch noch ein unwissendes Kind. Also?

Paul: Die Ungarn! Sie haben Uruguay in der Verlängerung mit 4 : 2 geschlagen.

Annette: Puh – schöne Bescherung. Schon wieder diese wüsten Toreschießer.

Paul: Wir können nur hoffen, dass wir diesmal nicht zweistellig verlieren.

Annette: Was redest du denn da? Wir verlieren doch nicht! Ich meine, nicht schon wieder, das wär doch nicht gerecht!

Paul: Oh ja, das ist eine gute Idee. Wir beantragen bei der Fifa einfach einen gerechten Ausgang des Turniers.

Annette: Na gut, Schlauberger. Ich sag dir jetzt mal was: Wir gewinnen. Wir gewinnen und machen Schaschlik aus den Ungarn.

Paul: Du meinst Gulasch, Schatz.

Annette: Wenn ich Schaschlik sage, mein ich auch Schaschlik.

Paul: Gut. Worum wetten wir?

Annette: Wenn wir mal Kinder haben, darf ich die Namen aussuchen.

Paul: Wenn Deutschland gewinnt. Ansonsten such ich die Namen aus.

 

Annettes trotziger Glaube daran, dass der deutschen Mannschaft unmöglich im Endspiel ›schon wieder‹ eine ungerechte Niederlage werde einstecken müssen, wird gegenüber dem ›Schlauberger‹ Paul, der an der Gunst des Schicksals zweifelt, Recht behalten. Beim Endspiel sitzen beide im Stadion und es sieht schlecht für die deutsche Mannschaft aus. Paul entscheidet, ein Sohn werde Rüdiger, ein Mädchen Roswitha heißen. Annette ist entsetzt. Entschlossen steht sie auf und feuert die Mannschaft an: »Deutschland vor!« Die anderen deutschen Fans stimmen ein und die Rufe scheinen den Siegeswillen der Spieler zu beleben. Annettes Motivation, für Deutschland zu sein, erscheint so subjektiv wie integer – wer möchte schon eine Tochter namens Roswitha haben? Von der damals tatsächlich von den deutschen Fans angestimmten verbotenen Strophe der deutschen Nationalhymne ist nichts zu hören – das ›Deutschland vor‹ erhält seinen Ursprung in der Wette um den Namen der nächsten Generation.

Inzwischen ist Matthis, der von seinem Vater Richard nach Bern gebracht wurde, an den Spielfeldrand getreten. Auf einen Blickwechsel zwischen ihm und Rahn folgt das entscheidende Tor: »Deutschland ist Weltmeister!«

Das eigentliche Finale des Films aber findet am Bahnhof in Singen, Süddeutschland, statt. Der Zug mit der Mannschaft wird von jubelnden Fans in Empfang genommen. Jetzt, wo Deutschland gewonnen hat, schmelzen alle Konflikte in nicht zu wenig Schmalz endgültig. Am Bahnsteig erfährt Paul, dass nicht nur Rahn, sondern auch er einen wichtigen Treffer gelandet hat – Annette ist schwanger, er findet sie wunderbar und erklärt, sofort nach Hause zu wollen. Der Sieg Deutschlands hat die beiden endlich zusammengeführt und die Entscheidung über den Namen der nächsten Generation in die Hände von Annette gelegt. Sie steht nicht länger in Konkurrenz zum Männersport, dessen Feindin sie vormals war, und für Paul geht endlich die Familie, und nicht der Sport, vor.

Rahn, gemeinhin ›der Boss‹ genannt, übergibt mit den Worten »Hier Chef, endlich maln richtiget Bier!« Herberger eines der beiden Biere, die Matthis ihm mitgebracht hatte. ›Der Chef‹ und ›der Boss‹ trinken umjubelt zusammen Bier, während Matthis, gemeinsam mit Richard, seinem richtigen und rechtmäßigen Vater, in einem Abteil sitzt. Paul hatte vor lauter Vaterfreuden seinen Presseausweis in die Lüfte geschmissen, der just vor Matthis Füßen landete und Richard als Einlasskarte in den Zug diente – nicht nur Herberger beim Bier, auch Richard ließ mal fünfe gerade sein, als er dem Schaffner vorgab, Ackermann von der Süddeutschen zu sein, um sich mit Matthis in den Zug zu schummeln. Beide sitzen also im Abteil und Matthis zieht aus seiner Hosentasche einen Brief von Bruno hervor, den er dem Vater geben sollte. Richard beginnt zu weinen und schluchzt, Bruno schreibe, man könne ihn jederzeit in Ostberlin besuchen. Aber was müsse Matthis bloß von ihm denken, er sitze hier und heule wie ein kleines Kind? Da beweist Matthis, dass er wirklich, wie Christa sagte, als Kleiner ein ganz Großer ist, ebenso wie eigentlich auch der Papa: »Weißt Du, Papa, auch deutsche Jungs dürfen ruhig einmal weinen.«

Matthis steht, wie schon zuvor, auch für die dritte Generation. Er vermittelt zwischen der ersten und der rebellischen zweiten Generation, zwischen dem Vater, der kein Nazi war sondern Zuckerdieb, und Bruno, der in Wahrheit nicht nur Raucher und Kommunist sondern ein guter Sohn ist, der dem Vater eigentlich nichts Böses will und damit den Vater zu Tränen rührt. Matthis definiert neu, was ein deutscher Junge ist. 

Gottschalk unterhält nicht Zielgruppen, sondern Menschen. Ob die 7 oder 70 sind, intellektuell oder grenzdebil - in seinem Herzen hat jeder einen Platz. Er nennt das Familienfernsehen und macht sich gern zum Deppen, wenn es der Unterhaltung dient.

Was Matthis, Bruno und Richard nicht, wohl aber das Kinopublikum weiß: Gegen das Versöhnungsangebot von Bruno, die Familie könne ihn jeder Zeit besuchen, wird bald die Mauer zwischen Ost und West errichtet werden.

Ein bisschen Wehmut am Ende verweist auf das Ende der Geschichte, die der Anfang des neuen Deutschlands 1989 war – auf dem Weg nach Ostberlin steht nicht mehr die Mauer im Weg, »Wir sind ein Volk«, nicht geteilt, ob in Ossis, Wessis, Fußballfreunde und Fußballfeindinnen, diverse Zielgruppen. In so einem Volk hat nun jedeR einen eigenen Platz gefunden, wie in Gottschalks Herzen oder an der Bratwurstbude bei der WM, an die mit schwarz-rot-gold bemützten Autospiegeln vorgefahren wird und neben Gottschalk jedeR gerne zum Deppen wird, wenn es der Unterhaltung dient.

»Ich hatte immer das Bild im Kopf, dass der Zug mit den Weltmeistern in die aufgehende Sonne fährt. Meistens steht im Abspann ›Ende‹ geschrieben, aber ich habe gedacht, ob ich danach nicht einfach ›Anfang‹ stehen lassen sollte. […] Da ist eine Mannschaft, die vom Schicksal zusammengeführt wurde, um etwas zu erreichen« (Wortmann, in: 11 Freunde 28/ 2003). Das letzte Bild zeigt, wie der Zug mit der Nationalmannschaft, Richard und Matthis anfährt. Die Gleise führen durch deutsche Landen der Sonne der Gegenwart des Kinopublikums entgegen, in der die Mauer zwischen Ost und West längst gefallen ist und historisch das realisierte, was »Das Wunder von Bern« verspricht – kein ›dagegen‹, ›entweder oder‹: egal ob groß oder klein, Mann oder Frau alle gehören dazu, zur Großfamilie Deutschland-einig-Siegerland, dass wieder wir und wer ist, wenn du Deutschland bist.

 

 

Literatur:

Assmann, Aleida (2004): Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945, in: Erinnern - Freiburger literaturpsychologische Gespräche Bd. 23 (hrsg. von Mauser, Wolfram/ Pfeiffer, Joachim), S. 81-92.

Herzog, Dagmar (2005): Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München.

kittkritik (2007): Nationales Vergangenheitsrecycling in der deutschen Gegenwartskultur, in: ebd.: (Hrsg.), Deutschlandwunder – Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur, Mainz, S. 7-25.

Witte, Sonja (2007): Das Wunder von Bern – Katharsis der Nation, in: ebd, S. 214-234.

Mitscherlich, Margarethe (1987): Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt/M.

Der Spiegel (43/2008): Spiegel Gespräch »Arroganz der Eliten«, Thomas Gottschalk im Interview mit Thomas Tuma, S. 110-112.

Der Tagesspiegel (16.10.03): Dieses Land braucht eine neue Gelassenheit – Sönke Wortmann über Fußball und Politik, Täter und Opfer, Verdrängung und Nationalgefühl und seinen Film »Das Wunder von Bern«. Gespräch zwischen Sven Goldmann, Julian Hanich und Sönke Wortmann.

11 Freunde – Magazin für Fußballkultur (28/2003): Ich wollte ein Heldenepos. Gespräch zwischen Erik Eggers und Sönke Wortmann.

 

ANMERKUNGEN

1) Es handelt sich hier um eine Zusammenführung des Vorwortes zu dem von der Gruppe kittkritik herausgegeben Sammelbandes »Deutschlandwunder – Wunsch und Wahn in der postnazitischen Kultur« (kittkritik 2007) und meines in dem Band erschienenen Artikels »Das Wunder von Bern – Katharsis der Nation« (in ebd.: 214-234).

2) In Ostdeutschland – auch hier in die Fußnote deutscher Geschichte gerückt – verhält sich das Verhältnis der Generationen anders.

3) In dem Motiv ›rebellische Jugendliche‹ werden in deutschen Filmproduktionen wie »Sophie Scholl« oder »Napola – Elite für den Führer« in der Darstellung einer Auflehnung gegen Nazis während des NS zugleich bestimmte Stereotype, die mit der 68er Generation verknüpft sind, mit aufgerufen (Intellektualität, Protest, ›gegen das System sein‹, moralische Integrität, Engagement für das Allgemeinwohl aber ›gegen das System‹ etc.).

4) Hier stellt sich der allgemeine Widerspruch nationalistischer Ideologie dar, der hier zwar spezifisch deutschdumm, aber nicht spezifisch deutsch ist. In jeder bürgerlicher Staatsvertragstheorie findet sich das Paradoxon, dass der Staat den Zweck hat die Einheit zu konstituieren, deren Ausdruck er sein will – worauf eine Anmerkung aus der Redaktion hinwies.

5) Die Relativierung des Unterschiedes zwischen Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager ist eine alte kollektive Strategie der Schuldabwehr. Seit den 90er Jahren ist verstärkt eine Verschiebung dahingehend zu beobachten, dass die Forderung, das Leiden der Deutschen anzuerkennen mit der Erinnerung an die jüdischen Opfer im Dienste nationaler deutscher Interessen verbunden wird. Z.B. geht es der Starkulturwissenschaftlerin Assmann nicht um ein Ausspielen der ›deutschen Leidensgeschichte‹ gegen die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, sondern um eine ›Anerkennung der eigenen Leidensgeschichte‹ neben ›anderen Leidensgeschichten‹. Sie sieht die ›Anerkennung des Nebeneinanders‹ als Voraussetzung für eine ›Normalisierung‹ der deutschen Nation. – »So stehen für Aleida Assmann derzeit Walser wie Grass für eine wünschenswerte ›Demokratisierung bzw. Vervielfältigung des Geschichtsbewusstseins‹ (Assmann 2004, S. 90), die den von der zweiten Generation etablierten ›Druck des Fragens‹ (ebd., S. 88) – der sich biografisierend gegen den offiziellen, staatlichen Gedächtnisdiskurs der 50er Jahre wandte – weiterführt: ›[…] Grass […] hat einer persönlichen und kollektiven Erinnerung zur Geltung verholfen, die durch die Zentralperspektive der Holocaust-Opfer in den letzten Jahrzehnten keine Chance auf soziale und kulturelle Akzeptanz hatte. […] Es wird in Zukunft um ein Geschichtsbild gehen, in dem die eigenen Leidensgeschichten ihren Platz haben neben den anderen Leidensgeschichten, die die Deutschen zu verantworten haben. […] Denn nicht durch Vergessen sondern durch Erinnern der nationalsozialistischen Verbrechen und  Gedenken an deren Opfer gliedern sich die Deutschen in die internationale Staatengemeinschaft ein.‹ (Assmann 2004, S. 91)« (kittkritik 2007).

6) Dies steht ganz in der Tradition der ›friedfertigen Frau‹, die Margarethe Mitscherlich in den 80er-Jahren zur ideellen Trägerin der Trauerarbeit deklarierte: »Auch wenn Männer wie Frauen der Nachkriegsgeneration von ihren Eltern und Großeltern die Abwehr der Erinnerungsarbeit übernommen haben, auch wenn gesellschaftliche Strukturen sich wiederholen […], gibt es doch Angehörige der Nachkriegsgeneration – zu denen die der patriarchalischen ›Wertwelt‹ kritisch gegenüberstehenden Frauen gehören –, die sich mit der Vergangenheit in der Gegenwart intensiv auseinander setzen. Das bedeutet nicht, daß damit die Gefahr einer paranoiden Unmenschlichkeit und Destruktivität gebannt sei, und daß der Faschismus nicht immer noch das Menschenmögliche ist. Aber die – verglichen mit dem Mann – größere Nähe der Frau zu ihrem Gefühlsleben, die sie zur Trauer und zur Wandlung fähig macht, kann einer Jugend beiderlei Geschlechts zum Vorbild werden […]«. (Mitscherlich 1987: 34 f).


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