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Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Über das Elend der Kultur        

Interview mit Andreas Benl über die poststrukturalistische
Rezeption von Islam und Islamismus sowie über die
Unvereinbarkeit von Emanzipation und Kultur.


Das Spannungsfeld von Islam und Islamismus, sowie dessen politische und gesellschaftliche Implikationen, vornehmlich in den Ländern der arabischen Welt, stehen seit längerem, spätestens mit dem Aufbegehren der iranischen Opposition gegenüber einem islamistischen Regime und deren offenkundigen Repressionen, verstärkt im Brennpunkt einer linken Debatte. Über die Frage nach der Bewertung des (politischen) Islams als einer Form religiös-identitärer Vergesellschaftung gibt es innerhalb der akademisch-, aber auch innerhalb der radikalen Linken unterschiedliche Auffassungen. Das Extrablatt sprach mit dem Publizisten und Autor Andreas Benl über die politischen Ursprünge, die theoretischen Hintergründe und die praktischen Konsequenzen einer vornehmlich postrukturalistisch geprägten Rezeption von Islam und Islamismus.

 

Extrablatt: Würdest du für uns zunächst die Konfliktparteien wie deren Positionen bezüglich dieser Streitfrage benennen.

Benl: Es gibt spätestens seit der Intifada von 2000 und dem 11. September 2001 in der Linken eine Diskussion über den Charakter des Islamismus, weil dessen Hauptfronten, die USA und Israel, historisch auch Gegner der Linken, einerseits des Realsozialismus und andererseits der neuen Linken im Westen, darstellen. Somit ergaben sich für viele Linke erst einmal Schnittpunkte mit dem Islamismus für den sogenannten antiimperialistischen Kampf. Dieses Spektrum des linken Antiimperialismus stellen historisch gesehen die traditionelle marxistisch-leninistische Linke, die leninistisch-stalinistische Arbeiterbewegung und der daraus entstandene Maoismus dar. Diese Fraktion ist in der heutigen Auseinandersetzung nicht mehr die wichtigste, weil sie kein vermitteltes Verhältnis zu den meist im Trikont entstandenen islamistischen Bewegungen herzustellen vermag. Vor dem Hintergrund der Logik der internationalen antiimperialistische Solidarität gibt es für diese Linken eigentlich nur zwei Optionen: Entweder man ordnet sich dem Islamismus unter, da dieser heute unbestreitebar die Avantgarde des Antiamerikanismus und Antizionismus darstellt. Es gab ja sogar Beispiele, dass Leute aus dem antiimperialistischen Spektrum zum Islam konvertierten. Oder man fragt sich, warum Bewegungen, mit denen man vom geschichtlichen Verlauf her nichts unmittelbar gemeinsam hat, dieselben antiamerikanischen und antiisraelischen Parolen vertreten, die man selbst gerne in Anschlag bringt. Das sind Fragen deren Bedeutungsdimension in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus aber eher eine randständige ist. Die wichtigere Position nimmt die akademische oder intellektuelle Linke ein, die sich seit den 1970er Jahren auf dem theoretischen Terrain des Poststrukturalismus formierte und sich durch Diskussionen über Gender Studies, Kritik der Homophobie und Fragen des Antirassismus auszeichnet. Als deren theoretischer Ausgangs- und Anknüpfungspunkt ist Michel Foucault zu nennen.

Extrablatt: Folgt man Alain Finkielkrauts Argumentationsgang in seinem Werk »Die Niederlage des Denkens« geht die Position Kultur als nützlichen und wertvollen Referenzrahmen für Individuum bzw. Gemeinschaft zu begreifen, u.a. aus den Verwerfungen einer (post-)kolonialen Erfahrung von Orient und Okzident gleichermaßen hervor. Kultur sollte die eigene verlorengegangene Identität aufpolieren, sie stärken, um sich vollkommen von den ehemaligen Kolonialherren zu befreien. Worin liegt d.E. die Problematik einer solch positiven Bezugnahme auf das Moment der Kultur?

Benl: Wie gesagt, die wichtigere Fraktion, die heute den größten ideologischen Einfluss hat, ist die poststrukturalistische, akademische Linke. Geht man von Foucault aus, dann war sein Vorgehen ursprünglich nicht unbedingt eine Verteidigung verschiedener kultureller Identitäten oder einer orientalisch-kulturellen Identität gegen die westliche, sondern es ging ihm um eine bestimmte Modernekritik. So beschäftigt er sich in seinen Hauptwerken mit der Frage, wie auf einer Habitusebene überhaupt die Grundlagen dafür geschaffen wurden, dass Individuen in einer modernen kapitalistischen Gesellschaft zu funktionierenden Subjekten werden. Bei der Beschäftigung mit dieser Entwicklung und der Auseinandersetzung mit dem Iran hat Foucault die moderne Gesellschaft als die «grausamste, wildeste, eigennützigste, unehrlichste herrschaftliche Gesellschaft« bezeichnet, die man sich überhaupt vorstellen kann. So hat er, ohne das in das Zentrum seiner Werke zu stellen, immer auch nach Gegenmodellen gesucht. In der iranischen Revolte von 1979 meinte er dann offensichtlich, ein totales Gegenmodell zu der gesamten Entwicklung in Europa seit der Aufklärung gefunden zu haben. D.h. für Foucault hat schon nicht mehr die Antipode Sozialismus vs. Kapitalismus eine Rolle gespielt, denn diese waren für ihn beide Subjekt- und Herrschaftsformen, die aus der Moderne, aus der Aufklärung entstanden sind und die er letztlich gleichermaßen abgelehnt hat. So stellt er auch in seinen Interviews und Artikeln zum Iran heraus, dass Sozialismus wie Kapitalismus in verschiedenen Formen der Terrorherrschaft geendet hätten und sah in der iranischen Revolte gegen den Schah einen Aufstand gegen die gesamte Entwicklung der Modernisierung in einem Land, das dieses System der modernen Subjektwerdung, das Foucault in seinen Büchern beschreibt, noch gar nicht entwickelt habe. Auf einer banaleren politischen Ebene hat 1979 z.B. Joscka Fischer etwas ganz ähnliches formuliert, als er sein Interesse für den Islamismus im Iran bekundete und sagte, die Menschen im Iran stellen sich gegen den Anfang einer Entwicklung, an deren Ende wir schon angekommen sind, von welchem aus wir diese Entwicklung aber genauso kritisieren. Er hat damit versucht, einen Brückenschlag der deutschen, westeuropäischen linken Alternativbewegung zu Khomeini und dem Islamismus im Iran zu ziehen.

Extrablatt: Resultat einer solch positiven Bezugnahme auf den Islam scheint die Abneigung zu sein, nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse und Missstände in den Blick nehmen zu wollen, sondern eher die westlich konstruierten Bilder des jeweils »Anderen« zu kritisieren?

Benl: Wenn man sich die schon standardisierten und reflexartigen Argumente, die aus einem bestimmten sich antirassistisch, gendertheorietisch und poststrukturalistich nennenden Milieu kommen, vom dem Ende her sieht, dann ist das tatsächlich so. Damit wird natürlich jede Frage nach den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen oder schlicht und einfach nach den Leiden der Menschen in den Verhältnissen schon von vornherein abgewehrt.

Um aber zu verstehen, warum solche Theorien eine Attraktivität für Menschen bergen, die nach ihrem eigenen Dafürhalten keineswegs versuchen, die bestehenden Verhältnisse zu rechtfertigen und die sich sicher ungern dem Vorwurf aussetzen würden, sie wären Orientalisten und besäßen ein verschrobenes Klischeebild über den Orient, muss man sich darauf besinnen, dass die zugrunde gelegte Kritik von Foucault insofern für einen Teil des Spektrums der neuen Linken interessant war, dass sie die dunklen, nicht thematisierten Schattenseiten der traditionellen Linken, der traditionellen Arbeiterbewegung thematisierbar gemacht hat. Daraus ergab sich erstens die Frage nach Geschlechterverhältnissen, die, wenn überhaupt, nur in oberflächlicher Form vom traditionellen Marxismus behandelt wurde, zweitens die Frage nach anderen Formen der Sexualität jenseits der heterosexuellen Norm und drittens die Frage nach den rassistischen Folgewirkungen des europäischen Kolonialismus. Das sind die drei Ausgangspunkte, aus denen heraus aber tatsächlich eine Bewegung entstanden ist, die de facto zur Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen dient, die vermeintlich oder wirklich nicht-westlich und nicht-kapitalistisch sind. Hierbei werden genauso reflexartig wie beim traditionellen Antiimperialismus politische Bewegungen gerechtfertigt, weil sie nicht-westlich oder antiwestlich sind. Über diese Bewegungen kommt man dann eben zu deren zugespitzter Form, dem Islamismus, weil er heute als das politische Konzentrat dieser antiwestlichen Bewegungen dient und weil die traditionelle Linke heute eine viel geringere Rolle spielt als noch vor dreißig Jahren.

Extrablatt: Mit dem Gegensatz westlich vs. anti-westlich, bzw. Okzident vs. Orient scheint demnach ein binäres Freund-Feind-Schema aufrecht gehalten zu werden, das an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert.

Benl: Ja natürlich, das ist die Logik davon. Das besondere an der akademisch-poststrukturalistischen Islamismusapologie ist jedoch die Politik im Namen »des Anderen«. Christina von Braun und andere Kulturrelativistinnen sehen sich selbst ja nicht als Islamistinnen und wollen auch kein Kopftuch tragen. Man verteidigt eben, dass »die Anderen« ihre Kultur nach ihrer kollektiven Wesenart leben sollen können. Wehe denen, die von dieser Wesensart abweichen. Das ist natürlich eine besondere Form des Zynismus. Der traditionelle Antiimperialismus war zumindest einmal etwas, das man immanent kritisieren konnte. Deren VertreterInnen standen ein für die Weltrevolution, den Sozialismus, für die Befreiung aus unterdrückerischen Verhältnissen. Islam und Islamismus waren schon für die Bolschewiki zeitweise taktische Bündnispartner gegen die westlichen Kolonialmächte, aber eben auch Gegner, sobald sie sich den revolutionären Kräften in den Weg stellten. Vor diesem Hintergrund spielten sich die Debatten in und über die antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen im Trikont ab. Es ging, jedenfalls bis zum Ende des Nominalsozialismus, nie um Religion als ‚Ziel an sich'. Dieser Nexus ist jedoch bei der poststrukturalistischen Linken weitgehend unterbrochen, weil man stets im Namen des Anderen redet und ausführt, dass der Andere eben anders ist und seine Andersartigkeit leben soll. So ist man aber nicht zu fassen. Redet man nicht im eigenen Namen, dann kann mach auch nicht im eigenen Namen kritisiert werden. So wie jeder nüchterne Materialismus in Bezug auf die Frage des Islam eskamotiert wird, im selben Maß wird die Debatte moralisch aufgeladen. Man will für den Anderen natürlich nur das Beste und ist damit schon salviert.

Extrablatt: Auffallend bei Braun/Matthes ist u.a. auch ihre Schmähung universalistischer Menschenrechte. Die Parteinahme für die rechtliche Anerkennung der Frau im Islam verwerfen sie mit dem Verweis auf den eurozentrischen Sprechort. Warum ist dieser Ansatz innerhalb von Kulturwissenschaften und Genderstudies aber auch in vielen Linken Kreisen d.E. so hegemonial?

Benl: Ich muss erst einmal dazu sagen, dass mich diese Begeisterung für den ethnoreligiösen Archaismus spontan befremdet. Aber natürlich habe ich mich mit der Geschichte des Poststrukturalismus, den Diskursen wie man so schön sagt, beschäftigt. Ich denke es handelt sich hierbei auf theoretischer Ebene um eine Verkennung der Geschichte der kapitalistischen Moderne. Diese Verkennung basiert vor allem darauf, dass die poststrukturalistischen Theorien eigentlich niemals den Bruch innerhalb der bürgerlichen Moderne und deren Fortschrittsideologie thematisiert haben, den der europäische Faschismus im Allgemeinen und der deutsche Nationalsozialismus und dessen eliminatorischer Antisemitismus im Besonderen markierten. Im nationalsozialistischen Antisemitismus wird- inkarniert in den Juden - genau das zum absoluten Feindbild erklärt , was einst der Stolz der bürgerlichen Aufklärung war. Der vernünftige Geist, der die Natur beherrscht und der zum Ideal die freien und gleichen bürgerlichen Subjekte hat. Diese haben sich, und das hat der Poststrukturalismus empirisch richtig festgestellt, dann aber erst einmal als männliche und europäische Subjekte hergestellt. Die poststrukturalistischen Theorien erkennen in dieser Entwicklung jedoch keinerlei Brüche oder Widersprüche. Der NS und die Shoah werden - sofern sie überhaupt thematisiert werden - als Produkte der Aufklärung im Kontinuum des abendländischen Rassismus abgehandelt. Verdrängt wird, dass der Nationalsozialismus eine regressive Kritik der Aufklärung und damit aller bürgerlich-liberalen Ideale war. Ein Krisenphänomen, das aus dem Kapitalismus entstand, aber all dessen ideologische, bürgerlich-liberalen Grundlagen fundamental angriff. Wenn man das nicht kritisiert, perhorresziert man heute in feministischen, antirassistischen und Gendertheorien ein Bild der bürgerlichen Gesellschaft, das kaum etwas mit der spätkapitalistischen des 20. Jahrhunderts zu tun hat, sondern höchstens der des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Ignoriert man die Regression, die in der bürgerlichen Gesellschaft stattgefunden hat, wendet sich die Kritik in schlimmster Konsequenz gegen die Momente dieser Gesellschaft, die zu retten wären. Momente wenigstens empirischer Aufklärung und individuellen Glücks. Das Ideal universeller Freiheit selbst wird in der Konsequenz angegriffen anstatt dessen Unverwirklichbarkeit unter bürgerlichen-kapitalistischen Verhältnissen.

Extrablatt: Die Theorie verkennt also, dass sich das Resultat des Gangs der bürgerlichen Gesellschaft gegen sich selbst richtet, dass letztlich ein positiver Bezug auf das Individuum von daher notwendig bzw. emanzipatorisch ist und eben nicht lediglich bürgerlich oder westlich?

Benl: Ja, es läuft auf ein Bündnis mit den diversesten Formen der regressiven Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Weil man letztendlich die Selbstermächtigung des bürgerlichen Subjekts verteufelt, seinen Austritt aus den zirkulären Formen der Geschichte, die überhaupt keine Individuen, keine Freiheit, keine Ansprüche auf Emanzipation kannten. So versteht man dann auch Marx begeisterte Beschreibung dessen, was der Kapitalismus geleistet hat nicht mehr; dass er die ganze Vorgeschichte der Menschheit auf den Müllhaufen geworfen hat. Bedenkt man diese Dialektik nicht, so kritisiert man heute weniger die neuen Herrschaftsformen, die aus der Entwicklung des Kapitalismus hervorgegangen sind, sondern im Endeffekt den Austritt aus den vormodernen Lebensformen selbst. Um das Ganze an einem Beispiel festzumachen: Georg Klauda wendet sich in seinem Buch Die Vertreibung aus dem Serail - Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt gegen die Kritik an der Homophobie in islamisch geprägten Ländern. In der Scharia gibt es laut Klauda keine Sanktionen gegen Homosexualität an sich, sondern gegen bestimmte sexuelle Praktiken. Das ist zweifellos richtig, die Definition von Hetero- und Homosexualität als sexuelle Identität ist ein neuzeitliches Phänomen. Klauda versucht vor diesem Hintergrund aber zu beweisen, dass die Verfolgung von Homosexuellen in islamisch geprägten Ländern im Grunde dem Export eines binären westlichen Modells sexueller Identität geschuldet sei. Dagegen versucht er Lebenswelten jenseits der Dichotomie von Hetero- und Homosexualität zu verteidigen, die es allgemein in vormoderner Zeit und besonders im traditionellen Islam gegeben habe und zum Teil noch gebe. Die »Schwule Internationale« sei dagegen ähnlich wie der westliche Feminismus angetreten, diese Lebenswelten in einer Art nachholender Kolonisierung zu zerstören, um an ihre Stelle ihre normativ-subjektiven Identitätsmodelle zu setzen.

Extrablatt: Alles Übel auf der Welt läge also begründet im Westen?

Benl: Ja. Zweifellos vertritt der Islam andere sexuelle Normierungen als die moderne bürgerliche Gesellschaft. Was verstört, ist Klaudas Versuch, hinter dieser Banalität die brutale Unterdrückung unter islamischen Verhältnissen zum Verschwinden zu bringen, indem er sie westlichen Einflüssen anlastet oder gegen westliche Normierungen aufrechnet. Adorno kritisierte einst die Sehnsucht des frühen Georg Lukàcs nach den sinnerfüllten vormodernen Zeiten. Die Verklärung dieser Zustände diene »später und überflüssiger Versagung«. Klauda wendet die partielle Duldung gleichgeschlechtlicher Sexualität in islamischen Gesellschaften nicht gegen die Willkür, die dies impliziert, sondern gegen die »schwule Internationale« die schuld sei am Leid der Homosexuellen in den islamischen Ländern, weil sie diese Gesellschaften erst dazu gebracht hätte, sich überhaupt Gedanken über verbreitete Sexualpraktiken wie z.B. Sex unter männlichen Jugendlichen zu machen, um diese dann zu verdammen. Diese Beziehungen sind in Ländern mit strikter Geschlechtertrennung zum Teil Ersatz für heterosexuelle, da diese erst nach der Heirat gesellschaftlich legitimiert sind. Wenn solche Formen im Verborgenen geduldeter, klammheimlicher Sexualität romantisiert werden, dann wirft man islamischen Gesellschaften nicht vor, dass sich diese Beziehungen nur im Verborgenen abspielen können und bei Überschreitungen verfolgt werden, sondern kritisiert im Gegenteil die Westler dafür, dass sie mit dem Konzept universaler Schwulenrechte erst eine Subjektivität in die Welt gebracht hätten, die von anderen Gesellschaften abgelehnt wird und zu Verfolgungen von Menschen als Schwule führt.

In einem weiteren Argumentationsgang wird Kritik an der Homophobie in islamischen Ländern damit abgewehrt, dass behauptet wird, sie kaschiere die mangelnde Kritik an der Geschichte und Gegenwart der Homophobie im Westen. Und tatsächlich ist es ja so, dass das identische bürgerliche Subjekt als seinen Gegensatz die »hysterische« Frau, die Vernunft und Arbeit abholden »Wilden« in den Kolonien und die »Perversen« setzte. Trotzdem hat erst die bürgerliche Gesellschaft es ermöglicht, ihre eigenen Konstitutionsbedingungen zu kritisieren. Unter den Tisch fällt, dass innerhalb dieser Subjektkonstitution zumindest die Möglichkeit existiert, dass diejenigen, die als davon ausgeschlossen gelten, einen Widerstand konstituieren und ja auch tatsächlich dafür gekämpft haben, die gleichen Rechte zu erlangen. Der Klappentext gibt den Rahmen vor, in dem immer wieder gleich argumentiert wird. Klauda zeige »den historischen Anteil des Westens an der Formierung antihomosexueller Diskriminierung in der islamischen Welt und belegt, dass auch in Deutschland - trotz aller gegenwärtigen Liberalität - von einer Auflösung des heteronormativen Korsetts keine Rede sein kann«. Man erklärt also den Opfern des ethnoreligiösen Terrors, sie sollten sich nicht instrumentalisieren lassen, im Westen sei es früher schließlich nicht anders gewesen und heute nicht viel besser. Anstatt - wie man ja naiverweise von angeblichen radikalen Dekonstruktivisten erwarten könnte - die Erkenntnis hochzuhalten, dass es nichts ewig Kulturelles oder Genetisches, sondern politischen Kämpfen entsprungen ist, wenn Menschen für sich bestimmte rechtliche Mindeststandards beanspruchen konnten, sagt man, man dürfe den anderen Gesellschaften nicht vorhalten, dass es dort diese Mindeststandards nicht gibt, weil es das Problem eben auch in der »eigenen« Gesellschaft gegeben habe. Ein antiemanzipatorisches Nullsummenspiel.

Extrablatt: Zugespitzt könnte man also behaupten, dass die poststrukturalistische Theorie die Ergebnisse ihrer eigenen historischen Untersuchungen verkennt, indem sie auf der einen Seite innerhalb der Geschichte des Westens erkennt, dass kulturelle Identitäten nichts natürliches sind, die sie aber auf der anderen Seite des Orients als natürliche, als orientalische verteidigt?

Benl: Genau. Am Ende läuft die vermeintliche Radikalität, die über das hinausführen sollte, was die historische marxistische Linke vertreten hat, auf eine Verteidigung kultureller Identitäten, vermeintlich natürlicher Lebensformen gegen das künstliche Überstülpen westlicher Werte hinaus. Das Interessante daran ist der Doppelcharakter, wenn man sich z.B. speziell mit der Kritik am westlichen Blick auf den Orient beschäftigt. Ein wichtiges Buch in dieser Debatte ist Orientalismus von Edward Said. Darin zählt er einerseits richtig die Klischees des Westens über den Orient auf affirmiert diese aber letztlich, weil er das, was dem Westen als barbarisch erscheint, diesem als positive Identitäten entgegenhält. Dafür findet man natürlich ganz eigene Begründungen. Es ist nicht wie bei Rechtsradikalen, die einfach anstatt von Rasse über Kultur sprechen und sagen, die Menschen im Orient stehen eben seit tausenden von Jahren in ganz bestimmten religiösen Verhältnissen und müssen deshalb auch darin verbleiben und nicht in das westliche Abendland migrieren. Es ist vielmehr so, dass im Islam und im Schleier eine Art der Vergemeinschaftung gesehen wird, in der man zwar selbst nicht leben möchte, aber auf deren Basis es gleichzeitig möglich ist, bestimmte Denkfiguren gegen die westliche Modernisierung durchzuspielen. So wird dann der Schleier zum Beispiel zum Schutzobjekt gegen den westlichen sexistisch-pornographischen Blick, anstatt dass die Verschleierung der Frau selber als eine erniedrigende Form der Reduktion von Frauen auf Sexualobjekte kritisiert wird. Um nichts anderes geht es, wenn angeblich der Mann vor seinen animalischen Trieben geschützt werden muss, indem man die Frau vollkommen verhüllt. Diese Argumentation wird z.B. von Christina von Braun vorgetragen trotz der Tatsache, dass man noch bis vor einigen Jahren heftige Debatten über Gerichtsprozesse führte, in denen Vergewaltiger legitimiert wurden, weil man der Frau eine Mitschuld zuwies, weil sie sich eben nicht genug verhüllt habe. Diese Debatten scheinen vergessen und man erkennt, worum es außertheoretisch bei diesen Theorien geht: sie bedienen letztlich eine bestimmte Zivilisationsmüdigkeit und ein regressives Bedürfnis. Es geht nicht um die realen Personen oder deren reale Gesellschaften, die in den Theorien verhandelt werden, sondern um die Fantasien derer, die diese Theorien aufstellen. Dies zeigt sich besonders an der Rohheit und dem Zynismus, mit denen Frauen wie Männern aus islamisch geprägten Ländern begegnet wird, die ihre Gesellschaften radikal als rückständig bzw. militant-regressiv kritisieren oder den Islamismus als (post-)moderne faschistische Bewegung charakterisieren. Ihnen wird die Legitimation zur Kritik abgesprochen, da sie  »verwestlicht« seien. Das heißt, dass ihnen jegliches Recht auf individuelle Meinungsäußerung, Protest und Erkenntnis gegenüber dem, was sie politisch kritisieren, verweigert wird. Sie haben gefälligst dem Bild, was von ihnen als kulturelle Gemeinschaft entworfen wurde, zu entsprechen, ansonsten werden sie als KulturimperialistInnen oder AgentInnen des weißen Mannes gebrandmarkt.

Extrablatt: Wie begegnest Du deren Vorwurf, dass Islamkritik rassistisch sei und letztlich von einer westlichen, euro- wie logozentrischen Kultur ausginge, die letztlich keinen höheren Wahrheitsanspruch für sich beanspruchen könne als die orientalische, die das Recht habe, anders sein zu dürfen?

Benl: Das einfachste Argument dagegen ist, dass diese monolithischen Kulturen »der Anderen« nicht existieren. Früher wusste man, dass Nationen keine homogenen Gebilde sind, sondern Klassengesellschaften. Jetzt will man nicht mal mehr wissen, dass es innerhalb bestimmter Regionen, auch wenn eine bestimmte kulturelle Prägung vorliegt, natürlich unterschiedliche Tendenzen gibt. Der Orient hat wie der Westen eine Geschichte der Überwindung reaktionärer Verhältnisse, er hat ebenfalls eine bürgerlich-liberale und sogar eine sozialistisch-kommunistische Geschichte wie andere Regionen auch. Nur ist diese Geschichte aus unterschiedlichsten Gründen immer wieder abgebrochen worden. Der Islamismus ist wohl das wichtigste Medium dieses Abbruchs. Der Islam war im 19. und 20. Jahrhundert im Orient das von allen Kräften des Fortschritts verachtete Instrument in- und ausländischer Reaktionäre zur Bewerkstelligung der permanenten Konterrevolution. Der Islamismus ist dagegen eine militante Bewegung zur Aufrechterhaltung oder Installation barbarischer Verhältnisse. Der Rassismus besteht genau darin, zu behaupten, orientalische Gesellschaften seien in sich selbst identisch mit jener Kultur, die ihnen die Islamisten oder andere Reaktionäre als die Gottgegebene einbläuen wollen.

Extrablatt: Daran anknüpfend, worin unterscheidet sich ein linke, emanzipatorische Kritik am Islam, von der einer rechten Provenienz, die ja etwa im Bündnis »Pro Köln« oder von Leuten wie Udo Ulfkotte u.a. formuliert wird?

Benl: Ganz einfach: Fortschrittliche Kritik am Islam solidarisiert sich mit den Menschen, die vom Fundamentalismus bedroht sind und nicht unter seiner Knute leben wollen. Also zuallererst mit den MigrantInnen, die im Visier der Islamisten stehen.

Reaktionäre »Islamkritik« will dagegen die Deutschen vor den Ausländern schützen und meint, mit dem Antiislamismus ein Agitationsthema gefunden zu haben. Einer fortschrittlichen Kritik hingegen, ob am Islam oder anderen identitären Bewegungen sollte es zuvorderst um die Verteidigung des Individuums gegen jede Form der gemeinschaftlichen Regression gehen.

Eine Linke, die den Namen verdient oder die noch etwas emanzipatorisches hätte, müsste natürlich auch eine Kritik der Verhältnisse, die die Sehnsucht nach dem postmodernen Archaismus hervorbringen leisten und organisieren. Leider muss man heute aber erst einmal dafür kämpfen, die Linke vom Rückfall hinter die bürgerlichen Verhältnisse und vom Bündnis mit der Barbarei abzuhalten, bevor man überhaupt darüber nachdenken kann, diese bürgerlichen Verhältnisse auf einer Grundlage zu kritisieren, die nach vorne weist, der es um die emanzipatorische Aufhebung derselben geht.

Extrablatt: Ist Kulturalismus bloß ein anderer Begriff von Rassismus? Wo liegen die Unterschiede? Und welcher Kulturbegriff liegt dem Kulturalismus zugrunde?

Benl: Der Begriff des Kulturalismus hat bis in die späten achtziger Jahre eine Transformation der rechtsradikalen Debatte bezeichnet. Es war die Einsicht von intellektuellen Rechtsradikalen, dass sie mit dem Rassediskurs in Europa nicht mehr weiterkommen, weil der durch den NS zu stark belastet ist. Sie substituierten den Begriff der Rasse durch den der Kultur. Die Menschen, so argumentieren sie, leben in festgefügten, statischen Kulturen, die durch Immigration zersetzt werden und deren Harmonie, die in diesen homogenen Kulturen herrscht, dadurch zerstört wird. Es träten soziale Probleme auf, die letztendlich sowohl dem Immigranten als auch der autochthonen Bevölkerung schaden. Deswegen gilt es, die Kulturen auseinander zu halten.

Die Ironie der Geschichte ist, dass man die heutigen Diskurse der Gender-Studies, Orientwissenschaften, Kulturwissenschaften usw. zuweilen nicht mehr von diesen rechten Diskursen unterscheiden kann, mit einer entscheidenden Differenz: es sind natürlich keine Ausländer-Raus-Diskurse, es geht nachgerade um die Annerkennung der fremden Kultur. Nur werden diese anderen Kulturen - wie bei den rechten Counterparts der akademischen Islamophilie - als homogene Gebilde beschrieben. Eine weitere Besonderheit ist: Der Antirassismus ist eine Verteidigung nicht der vermeintlich eigenen Kultur oder Rasse, sondern der der anderen. Der Andere, der da als homogenes, nicht westliches Wesen konstruiert wird, ist sozusagen eine Figur der Kritik an der Moderne, an der man selbst leidet. Das ist eine Form der Romantisierung von unterdrückerischen Verhältnissen in anderen Regionen oder vor anderen kulturellen Hintergründen, die eine lange Geschichte zurück in die Romantik hat. Paradoxerweise erhalten diese Diskurse, die sich inhaltlich und historisch an traditionell rechte Zivilisationskritik rückbinden lassen, in einem bestimmten akademischen links konnotierten Milieu einen radical chic.

Extrablatt: Wie schlägt sich das in den Debatten um den Islam nieder?

Benl: Das wäre natürlich mein zentraler Angriffspunkt: Über die ganzen theoretischen Fragen hinaus muss man eben auch konstatieren, dass die Vehemenz, mit welcher sich der Islam in Europa durchsetzen kann, nicht überall gleich ist. Es gibt meines Erachtens gerade in Deutschland und in Österreich ein besonderes Faible für dessen Verharmlosung, oder sagen wir, es gibt hier besonders wenig Widerstand dagegen. Es mag in England und Frankreich aufgrund der eigenen Geschichte verständlich sein, mit dem Stichwort Antikolonialismus einen positiven Begriff innerhalb der Linken zu setzen und darauf aufbauend allen möglichen Unsinn zu vertreten. In Deutschland, das schon im Ersten Weltkrieg seine Agenten in den Orient schickte und dort versuchte, den Islam als Kampfmittel gegen die westlichen Ententemächte einzusetzen und das im Zweiten Weltkrieg Bündnispartner aller möglichen islamistischen Antisemiten war, bekommt die ganze Sache eine besondere Absurdität oder eine stringente Logik. Die Geschichte des NS wird hier nicht nur philosophisch eskamotiert wie bei Foucault und Konsorten. Man plappert »subversiv« vom islamischen »Widerstand« in einem Land, das wie kein anderes seit dem 19. Jahrhundert islamische Reaktionäre und islamistische Antisemiten geschützt und gefördert hat. Die links gestrickte akademische Islamapologie dient direkt oder indirekt den Interessen der deutschen Außenpolitik. Und deshalb wird der Irrsinn auch kräftig subventioniert.

Extrablatt: Wie würdest Du das Verhältnis von kulturrelativistischer Theorie zur deutschen Innenpolitik beschreiben?

Benl: Innenpolitisch scheint mir die Theorie den Transfer von einer deutsch-völkischen Kultur hin zu einer multikulturellen Gesellschaft geleistet zu haben. Es wurde ja bis vor kurzem behauptet, Deutschland sei kein Einwanderungsland und es müsse letztendlich darum gehen, »die Ausländer« schleunigst wieder loszuwerden, auch wenn die gesellschaftliche Veränderung allen klar war und dass man Millionen von Migranten nicht einfach rausschmeißen konnte. In Erwägung, dass die Immi­gration und die gesellschaftliche Entwicklung nicht rückgängig zu machen war, wurde versucht, die Angelegenheit insofern für Deutschland und die deutsche Ideologie fruchtbar zu machen, als man »die Ausländer« in irgendeiner Form zu vergemeinschaften begann.

Es ist ein ambivalentes Verhältnis: Für bestimmte Rechte ist der Islamdiskurs die Legitimation zu sagen, Immigration führt nur zu Problemen und man muss die Leute rauswerfen. Die andere Seite derselben Medaille ist, dass man Immigration erst dann akzeptieren kann und will, wenn man die Immigranten in eine Form der Vergemeinschaftung zwängt, die sie dann wiederum zu »Anderen« macht. In der Hauptsache geht es darum, seine eigene deutsche Identität dadurch zur Schau zu stellen, dass man »die Anderen« als Muslime deklariert. So funktioniert der positive Rassismus der Kulturrelativisten, da sie behaupten, dass diese Andersartigkeit ja auch etwas Gutes hat. Und so funktioniert die Rede der rechten Islamkritiker, für die der Islam nur ein Deckwort für die verhassten Ausländer ist. Es bleibt sich in dieser Konzeption aber vollkommen gleich, was die Menschen, die da kulturalisiert werden, eigentlich über sich selber und ihr eigenes Leben denken.

Extrablatt: Das verweist gleich auf eine weitere Frage: ist die islamische Gemeinschaftsideologie eine Projektionsfläche? Und welcher Inhalt wird projiziert, welcher verkannt?

Benl: Es wird schon in der Argumentation der VertreterInnen vollkommen klar, dass es eine Projektionsfläche ist, weil sie sich ständig bemühen, sich selbst vom eigentlichen Inhalt der Debatte fernzuhalten. Würden sie die Position vertreten, Steinigungen, Beschneidungen, Kopftuch etc. seien einfach als interessante kulturelle Praktiken zu betrachten, die jeder mal ausprobieren sollte, dann würde die Absurdität des Ganzen klar werden. Gesagt wird aber: ich will das natürlich nicht für mich und wir leben hier ja auch unter ganz anderen Bedingungen, aber die Realität der Anderen sehe nun mal ganz anders aus und die könne man auch nicht einfach mit unseren Maßstäben messen. In Wirklichkeit ist es natürlich eine Projektion der eigenen regressiven Fantasien, die einen selbst aber nichts kostet. Sterben müssen im Zweifelsfall die Anderen - Frauen, Oppositionelle oder Juden im Nahen Osten.

Welcher Inhalt wird projiziert, welcher verkannt? Ich würde sagen, Foucault hat ja durchaus richtig beschrieben, dass die traditionelle selbstherrliche, naturbeherrschende, bürgerliche Subjektivität eine Transformation erfahren hat in den letzten 150 Jahren. Was er verkannt hat war, dass der Gipfelpunkt dieser Transformation niemals eine emanzipatorische, nach vorne weisende war, eine die vielleicht tatsächlich die gewalttätigen und regressiven Momente aufheben würde. Es war ja das Gegenteil der Fall: die gewalttätige Dimension wurde verabsolutiert, der Individualismus des frühen Bürgertums ging im technisch ausgerüsteten Archaismus des Nationalsozialismus unter. Die Verkennung der Geschichte des Nationalsozialismus bedingt alles weitere.

Welcher Inhalt projiziert wird? Ich glaube, um es einmal zugespitzt zu formulieren, der Islamneid rührt auch daher, dass in der islamischen Welt ein antisemitischer Hass ausgelebt wird, den man sich zumindest momentan im Westen und speziell in Deutschland noch nicht offen auszusprechen traut. Wenn ein im Orient existierender eliminatorischer Antisemitismus als Übersetzungsfehler deklariert oder sonstwie apologetisch behandelt wird, dann kommt darin ein Bedürfnis zum Tragen, sich genau mit diesem Antisemitismus zu identifizieren. Nur dass auch dies eben im Namen des Anderen passiert, was die Sache praktisch macht, weil man sich selber der Zurechenbarkeit entzieht.

Extrablatt: So wird immer wieder von Mathes und Braun versucht, eine Ursprünglichkeit des Bösen auf  den Westen zu verlagern, oder etwas abgeschwächt gesagt, wird behauptet, dass es dort ‚eigentlich' dieselben barbarischen Phänomene nur in anderer Form gebe wie in islamischen Gegenden. Worauf läuft diese Gleichsetzung hinaus?

Benl: Im Grunde lässt sich alles darauf zuspitzen, dass das, was in diesen ganzen Debatten formuliert wird, eine Kritik der Aufklärung an sich ist und nicht eine Rekonstruktion der Dialektik der Aufklärung wie sie Horkheimer und Adorno vorgelegt haben. Anstatt zu sagen, die bürgerliche Gesellschaft trägt in sich entweder Restbestände vormoderner, unmittelbarer Gewaltverhältnisse oder schlimmer: sie verrät den Schritt, den sie aus den barbarischen Verhältnissen hinausgemacht hat, indem sie diese Verhältnisse auf einer anderen Stufenleiter reproduziert. Anstatt damit aber festzuhalten, dass dieser Austritt aus unmittelbaren Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen die conditio sine qua non der Emanzipation ist, werden barbarische Verhältnisse dadurch gerechtfertigt, dass die bürgerliche Emanzipation eine unvollständige geblieben ist, um damit schlussendlich die Emanzipation selbst als die Erbsünde angreifen zu können.

Extrablatt: Um auf ein konkretes Beispiel dieser Gleichsetzungslogik zu kommen: nach Mathes und Braun soll der Ehrenmord des Orients nichts anderes sein als die hierzulande oft in Zeitungen aufgeführte Familientragödie, in welcher der Mann letztlich auch nur die Frau für Verrat an der Institution, hier der Ehe, geübt haben soll. Vor allem habe es dortzulande nichts mit dem Kopftuch oder dem Islam zu tun. Was bedeutet diese Gleichsetzung und trifft deren Begründung deiner Meinung nach überhaupt? Oder ist die Gleichsetzungslogik gänzlich falsch angelegt?

Benl: Das ist sie. Wenn man einen Ehrenmord mit einer Familientragödie gleichsetzt, bedeutet das, dass man ein Szenario, in dem meist ein Mann sich das Recht nimmt, seine Frau, deren Liebhaber, seine ganze Familie und sich selbst umzubringen, gleichsetzt mit einem geplanten Urteil einer Familie oder eines größeren Vergemeinschaftungszusammenhangs oder gar eines ganzen Staates wie der Islamischen Republik Iran, die nach Gottes unveränderlichen Gesetzen ein Todesurteil über ein Individuum exekutieren. Somit wird eine Tat individueller Selbstjustiz, die in keiner Weise von der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Rechtstaat legitimiert werden kann, gleichgesetzt mit einem geplanten, als göttliches Urteil exekutierten, tödlichen Strafakt. Das ist rein logisch schon Schwachsinn. So wird vollkommen klar, dass es hierbei nur eine Aufrechnung zugunsten regressiver Gesellschaften und einer an welchen Haaren auch immer herbei gezogenen Delegitimierung zivilisatorischer Mindeststandards geht.

Extrablatt: Und wie steht es mit der Behauptung, der Islam hätte mit all diesen Praktiken nichts zu tun oder sei zumindest nicht mitverantwortlich für sie?

Benl: Das ist auch ein sehr beliebter Diskurs. Man sagt, der reine Islam hätte mit den als barbarisch aufstoßenden Praktiken nicht zu tun, sondern das seien kulturell tradierte Praktiken, die es zum Teil schon vor dem Islam gegeben habe und die deshalb im Zusammenhang mit regionalen, rückständigen Traditionen stehen und nicht mit dem Islam. Wenn das so wäre, dann ist es natürlich seltsam, dass sich immer wieder Islamgelehrte finden, die genau diese Praktiken religiös rechtfertigen und dass sie sich so hartnäckig halten. Das ist ein Scheinmanöver, das darüber hinweg zu täuschen versucht, dass es im Islam nie eine Relativierung gab, die es möglich gemacht hätte, die Religion ins Privatleben zu verbannen und von der Herrschaft über unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse fern zu halten. Das war nur in Ansätzen und auch nur in autoritärer Art in den orientalischen Nationalstaaten, die sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gründeten, möglich wie z.B. in Ägypten, vor allem natürlich in der Türkei oder aber auch in der Sowjetunion, wo alle Religionen unterdrückt wurden. Die Frage aber, welche brutale Strafe ist regionaler Natur und welche steht im Koran, ist erstens falsch insofern, weil viele dieser barbarischen Strafen tatsächlich im Koran stehen und man sich sehr schwer tun wird zu behaupten, der Koran verbietet das oder der Koran wolle das gar nicht. Das ist aber auch nicht der zentrale Punkt, denn es stehen ja auch krasse Strafen in der Bibel, sondern vielmehr der, welche gesellschaftliche Rolle spielt eine Religion und ist ihre Herrschaft über die Gesellschaft an einem historischen Punkt entschieden relativiert und zurückgedrängt worden. Das ist die Frage, die es zu beantworten gilt und nicht die danach, ob es irgendwo einen Rechtsgelehrten gibt, der diese oder jene Bestrafung als unislamisch ablehnt. Denn auch das verbleibt in der Logik einer Rechtfertigung der islamischen Jurisprudenz, dabei sollte die Religion in keiner Weise darüber bestimmen können, welche Strafen für Abweichungen von bestimmten gesellschaftlichen Normen verhängt werden.

Extrablatt: Andererseits wird auch versucht, zwei Wirtschaftsformen, einmal die des Okzidents und einmal die des Orients, nachzuweisen. So wird nach einem Exkurs über die Geschichte des Geldes behauptet, dass es »einen grundlegenden Unterschied zwischen der Ökonomie der westlichen Welt und der des Orients gibt«. Deine Meinung dazu?

Benl: Das ist Blödsinn und es zeigt einmal mehr wie sich diese Debatte selbst gegen jede Form der Aufklärung abdichtet. Denn es ist eine Tatsache, dass auch diese Gesellschaften des Orients am Weltmarkt teilnehmen, in die Moderne hineingerissen worden sind, dass selbstverständlich die ganzen Ideen der Aufklärung oder des Marxismus nicht an den Grenzen dieser Länder halt gemacht haben. Die Zurückweisung dieser Tatsache manifestiert sich meiner Meinung nach in der lächerlichen Behauptung, es gäbe zwei verschiedene Ökonomien. Selbstverständlich müssen sich die Ökonomien des Orients auch in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt bewähren. Die meisten bewähren sich ziemlich schlecht darin. Aber in welchem Verhältnis auch immer diese Gesellschaften zur Weltökonomie stehen, sie entkommen ihr nicht. Die Behauptung erinnert eher an Karl May und orientalistische Fantasien davon, wie Karawanen Waren in der Wüste tauschen, als an eine moderne, vernetzte kapitalistische Weltökonomie.

Extrablatt: Ließe sich also zusammengefasst sagen, dass die vermeintliche auf political correctness beruhende Toleranz gegenüber der islamischen Gemeinschaftsideologie eine Kumpanei mit der Barbarei darstellt? Und was ließe sich dem deiner Meinung noch zum Ende entgegenhalten, möchte man dieser seltsamen Symbiose gekonnt entgegensteuern? Dein Schlusswort.

Benl: Ich stimme dieser Klassifizierung der Toleranz gegenüber dieser Gemeinschaftideologie als Kumpanei mit der Barbarei absolut zu und ich denke, man muss erstens versuchen, diese Ideologien zu denunzieren, indem man ihre Genese nachzeichnet und kritisiert, zweitens ihre Funktionalität für eine spezifische Art der deutschen Einflusspolitik im Ausland begreifen, die genau auf den Jahrhunderte alten kulturalistischen, romantischen, exotistischen Mythen beruht. D.h. man muss diesen Theorien auch den Nimbus des Widerständigen und Ultraradikalen nehmen und drittens heißt dies ganz konkret: Solidarität mit all jenen, die sich ihrer Zwangsvergemeinschaftung durch solche Diskurse, aber natürlich auch durch staatliche Gesetze z.B. durch Gerichtsurteile, die Frauenunterdrückung im Namen der kulturellen Andersartigkeit rechtfertigen oder durch die Einführung von bestimmten Elementen der Scharia ins Familienrecht in westlichen Ländern, zu entziehen versuchen. Schließlich natürlich Solidarität mit der iranischen Freiheitsbewegung, in der momentan Millionen von Menschen mit der Islamischen Republik das Zentrum des Islamismus angreifen und versuchen, das tote Gewicht der Religion abzuwerfen.

Extrablatt: Vielen Dank für das Gespräch.


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